Tausende christliche Pilger strömen normalerweise an Weihnachten nach Bethlehem, um die Geburt Jesu zu feiern. Es ist das Hauptereignis des Jahres in dieser Stadt im Westjordanland – wenn nicht gerade die Corona-Pandemie die meisten Feiern unmöglich macht.
Durch die Geburtsgrotte wabern Weihrauchschwaden. Die Menschen knien nieder. Goldene Leuchter hängen von der Decke. Wandbehänge aus Stoff und orthodoxe Kunst prägen jenen kleinen Raum, in dem ein silberner Stern von dem epochalen Ereignis kündet: Hier, in dieser Höhle, wurde der Überlieferung zufolge Jesus, der Sohn Gottes und Retter der Welt, geboren.
Aviram Oshri ist anderer Ansicht. Für den israelischen Archäologen sprechen Indizien dafür, dass Jesus nicht hier in Judäa geboren wurde, sondern in einem versteckten galiläischen Dorf namens Bethlehem, 15 Kilometer von Nazareth entfernt. Dort entstand 1906 eine landwirtschaftliche Siedlung der württembergischen Tempelgesellschaft. Kommt Jesus also aus einem „schwäbischen“ Dorf?
Keine christlichen Spuren
Der galiläische Ortsname ist bereits im Alten Testament belegt. Darauf machte der jüdische Talmud-Gelehrte Joseph Klausner (1874 bis 1958) aufmerksam. So wird bei Josua 19,15 ein „Bethlehem“ als Warte des Tempels im Gebiet des Stammes Sebulon erwähnt. Spuren christlicher Präsenz finden sich dort übrigens nicht mehr, nachdem die Templer-Bewohner die Siedlung 1948 verlassen mussten und keine Erlaubnis zur Rückkehr mehr erhielten.
Die israelische Behörde für Altertumsforschung beauftragte Aviram Oshri Anfang der 1990er Jahre, in dem Ort zu forschen. „Bethlehem in Galiläa wurde von Juden bewohnt“, sagt Oshri. „Wir haben hier Überreste von Steingefäßen gefunden. Diese verwendeten nur Juden in der Zeit Jesu.“ Außerdem stieß sein Team auf eine byzantinische Kirche und legte Reste einer Stadtmauer frei. Öllampen mit Kreuzen deuteten auf frühe Christen hin.
Für den israelischen Archäologen beweist all dies, dass Jesus in Galiläa geboren wurde – und nicht in der viel bekannteren Stadt bei Jerusalem. Für die Zukunft erwartet er wichtige Funde, die mehr über die Geschichte des „anderen Bethlehem“ verraten werden. Die Kirchen, meint Oshri, hätten allerdings kein großes Interesse, ihre traditionelle Lokalisierung der Weihnachtsgeschichte zu ändern.
Was ist dran an Oshris Thesen? Uzi Dahari, Vize-Direktor der israelischen Altertumsbehörde für Archäologie, reagiert zurückhaltend. Die byzantinische Kirche, die Oshri fand, sei nur eines der vielen Gotteshäuser, die durch Helena, die Mutter Kaiser Konstantins, bei ihrem Besuch im Heiligen Land errichtet wurden.
Der 2013 verstorbene Dominikaner Jerome Murphy-O’Connor, Professor für Neues Testament an der „École biblique“ in Jerusalem, lehnte Oshris These zeitlebens ab. Und Clyde Billington, Professor für Alte Geschichte und leitender Redakteur der Bibelarchäologie-Zeitschrift „Artifax“, meint: Bloß weil archäologische Beweise für eine Geburt Jesu im judäischen Bethlehem fehlten, bedeute das nicht, dass Jesus anderswo geboren sein muss.
Für die Evangelisten ist die Geburt Jesu in Bethlehem in Judäa keine Legende. Zahlreiche Angaben deuten darauf hin, dass die Autoren Kenntnisse besessen haben, die nur Menschen haben konnten, die zu dieser Zeit gelebt haben. Belegt ist auch, dass die Geburtsgrotte im judäischen Bethlehem mindestens seit dem zweiten Jahrhundert ununterbrochen verehrt wird – obwohl die Römer alles daran setzten, diesen Kult zu unterbinden.
Venus über Golgota
Als nach dem zweiten jüdischen Aufstand und der römischen Rückeroberung Judäas Kaiser Hadrian im Jahr 135 nach Christus aus Jerusalem die Stadt Aelia Capitolina machte, ließ er zugleich die heiligen Stätten der Christen konsequent in heidnische Kultorte umwandeln. Über dem Grab Jesu ließ er einen Jupitertempel erbauen. Auf der Hinrichtungsstätte Golgota wurde eine Venusstatue aufgestellt.
Ähnliches geschah in Bethlehem. Dort wurde eine römische Garnison angesiedelt, wie Inschriften in der Nähe des Rachelgrabs belegen. In Folge dessen kam es zur Gründung eines Heiligtums für Tammuz-Adonis über der Stätte der Geburt Jesu. Anstelle des „Kyrios“ (Herrn) Jesus sollte jetzt der Kyrios Adonis verehrt werden, umgeben von einem heiligen Götterhain.
Hadrians Absicht war es, die Geburtsgrotte möglichst schnell in Vergessenheit geraten zu lassen. Doch genau das Gegenteil trat ein: Die Christen bewahrten den durch den heidnischen Tempel entweihten Ort im Gedächtnis. Einer von ihnen war Justin der Märtyrer, der um das Jahr 100 in Neapolis (heute Nablus) bei Sichem geboren wurde.